Ich hatte ja kürzlich im Vorbeigehen erwähnt, dass in den letzte Wochen in Kerala und vier weiteren Bundesstaaten und Unionsterritorien hier in Indien Wahlen zur Erneuerung der jeweiligen Parlamente stattfanden. Nachdem seit den Wahlen genügend Zeit vergangen ist, damit sich die im Wahlkampf erhitzten Gemüter beruhigen konnten und der Chief Electoral Officer prüfen konnte, ob alles seine Richtigkeit hatte, wurden am 13. Mai die Stimmen ausgezählt (es wird mit Wahlcomputern gewählt, das geht also schnell) und die Ergebnisse bekannt gegeben.
Wie bei Landtagswahlen in Deutschland versucht die indische Presse, aus den Ergebnissen dieser „kleinen General Election“ Trends für den Gesamtstaat abzulesen. Das ist in Indien aber noch schwieriger als in Deutschland, denn das indische Parteiensystem und die indische Politik ist ein extrem kompliziertes Geflecht, in dem regionale Gegebenheiten – auch bei den Wahlen zum Bundesparlament – eine wichtige Rolle spielen.
Trotz des von der britischen Kolonialmacht geerbten Wahlsystems der relativen Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen, das im Regelfall Zweiparteiensysteme hervorbringen soll, gibt es in Indien ein atomisiertes Vielparteiensystem. Das liegt daran, dass es hier außer der Kongresspartei kaum Parteien gibt, die im ganzen Land erfolgreich an Wahlen teilnehmen können. Selbst die größte Oppositionspartei, die hindunationalistische BJP, tut sich von jeher schwer, außerhalb des hindustanischen Kernlandes Wahlerfolge zu feiern und bleibt in Süd- und Ostindien eine Randerscheinung. Vielmehr gibt es eine Vielzahl von Regionalparteien, Spezialinteressenparteien und auch Volksparteien mit regionalen Hochburgen. Das ganze macht es für eine einzelne Partei vor allem auf Bundes- aber auch auf Staatsebene fast unmöglich, alleine eine Regierungsmehrheit zu bilden. So entstehen bereits im Vorfeld von Wahlen Parteienallianzen (üblicherweise Alliance oder Front genannt), deren Bestandteile sich untereinander die Wahlkreise aufteilen und hier nicht gegeneinander antreten.
Das macht das Verfolgen der indischen Politik für den Außenbetrachter äußerst kompliziert. Auch nach mehrwöchiger regelmäßiger Lektüre von The Hindu und der Times of India fällt es mir schwer, alle Feinheiten der politischen Berichterstattung zu begreifen. Das liegt nicht nur am komplizierten Parteiensystem, sondern auch an der indischen politischen Kultur. Typischerweise kocht hier ein Thema hoch, wird extrem emotional und erhitzt debattiert, kühlt wieder ab und gerät gar in Vergessenheit bis es schließlich vom nächsten Thema abgelöst wird. Begleitet wird das ganze von sehr erregten Debatten in den beiden Parlamentskammern, Demonstrationen, bei denen Oppositionspolitiker in der ersten Reihe marschieren und die Lathi-Schläge (Lathi=Bambusstock) der Politzei einstecken müssen, Mahnwachen, Hungerstreiks („fast onto death“, auch gerne von Oppositionspolitikern verwendet) und ähnlichem. Die 24-Stunden Nachrichtensender berichten dann gerne live mitten aus dem Getümmel.
Seit ich hier bin haben zwei große Themen die Nation beschäftigt. Das eine ist die Korruption, von der die meisten Inder das Gefühl haben, dass sie in letzter Zeit zugenommen hat. Studien zeigen zwar das Gegenteil, doch ist vor allem die immer größer werdende Mittelschicht diesbezüglich aufmerksamer geworden, sodass eine Anti-Korruptions-Stimmung entstanden ist. Zudem gab es in den letzten Jahren mehrere größere Korruptionsfälle auf höchster Ebene, u.a. bei der Vergabe von Mobilfunklizenzen und bei Aufträgen im Rahmen der Commonwealth Games. Anfang April begann der „Gandhianer“ Anna Hazare einen „Fast onto Death“, um die Bildung eine Anti-Koppuptions-Kommission unter Beteiligung der Zivilgesellschaft zu erzwingen. Diese sollte ein sehr scharfes Antikorruptionsgesetz erarbeiten. Die Unterstützung in der Bevölkerung war derart groß, überall fanden Kundegebungen und solidarische Hungerstreiks statt, dass die Regierung nachgeben musste. Ein Gesetzesentwurf, von der inzwischen zusammengestellten Kommission erarbeitet, soll nun bereits in wenigen Wochen in der „Monsunssession“ des Parlaments eingebracht werden.
Ein weiteres Beispiel für die emotionale Politische Debatte in Indien sind derzeitige Unruhen in Uttar Pradesh, wo es Streit um die angemessene Entschädigung von Landwirten gibt, die ihr Land für Infrastrukturmaßnahmen abtreten sollen. Die Regierung des Bundesstaats, pikanterweise geführt von der BSP, die sich als Vertreter der Interessen der Unterdrückten und insbesondere der Unberührbaren sieht, hat die Polizei gewaltsam gegen demonstrierende Landwirte vorgehen lassen. Die Oppositionsparteien haben es sich nicht nehmen lassen, das Ereignis politisch auszuschlachten. Politische Prominenz ist nun vor Ort, veranstaltet Kundgebungen, droht Hungerstreiks zur Unterstützung der Bauern an. Mehrere Politiker wurden zwischenzeitlich festgenommen, darunter auch der mächtige und beliebte Generalsekretär der Kongresspartei und Hoffnungsträger der Nehru-Gandhi Dynastie, Rahul Gandhi. Mit so etwas können die Politiker hier ihre Glaubwürdigkeit stärken und ihre Volksnähe beweisen.
Zu den Regionalwahlen. Hier kann man die drei wichtigsten Bundesstaaten kurz ansprechen, die gewählt haben. In Kerala gab es, wie schon bei jeder Wahl seit 1980, einen Machtwechsel. Die Kongresspartei und ihre Verbündeten haben die Macht von den Kommunisten zurückerobert, jedoch nur mit einer hauchdünnen Mehrheit von zwei Sitzen. Da in der siegreichen Allianz zahlreiche kleine Parteien mit nur 1-2 Abgeordneten Vertreten sind, ergibt sich für sie ein ungeheuerliches Erpressungspotential.
Für ein politisches Erdbeben hat das Ergebnis der Wahlen in Westbengalen geführt. Hier wurde die Kommunistische Partei nach 34 Jahren ununterbrochener Regierungszeit (die längste Regierungszeit einer demokratisch gewählten KP auf der Welt) geradezu aus dem Amt gejagt. War dies aufgrund der allgemeinen Stimmungslage wegen des wirtschaftlichen Misserfolgs Westbengalens und der Abwanderung der gebildeten Jungend aus dem Bundesstaat erwartet worden, so überraschte doch das Ausmaß der Niederlage. Neue Ministerpräsidentin wird hier die äußerst beliebte und sehr sympathische Manmata Bannerjee. Interessanterweise gewann sie übrigens, indem sie die Loyalität der Landbevölkerung für sich gewinnen konnte, bisher die treuste Gefolgschaft der Kommunisten.
In Tamil Nadu schließlich zeigte sich, dass die Demokratie auch in Indien ihre Funktion erfüllt, Parteien abzuwählen, deren Anführer eher in die eigene Tasche wirtschaften als das Allgemeinwohl zu steigern. Die als besonders Korrupt geltende Regionalpartei DMK (die wie eine Familiendynastie geführt wird) wurde gnadenlos abgestraft. Regieren wird hier nun auch eine Frau, die bereits zum dritten Mal das Amt des Chief Ministers bekleidet, … von der AIADMK (die andere große Regionalpartei Tamil Nadus). Übrigens ist es in Tamil Nadu Gang- und Gäbe, dass Stimmen auf dem Land mit Geld oder Sachgeschenken gekauft werden. Da beide Seiten dieses Spielchen betreiben, kann man seinen Nutzen aber in Frage stellen.
Schließlich habe ich beobachtet, dass bei allen Wahlen eine hohe Wahlbeteiligung von 75-85% gemessen wurde. Werte, über die wir uns, gerade bei Landtagswahlen, sehr freuen würden. Bei allen Defiziten, die ihr nachgesagt werden, die indische Demokratie ist durchaus vital.